BIG Spaziergang N° 5

Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Mit der Bundesimmobiliengesellschaft zu Wiens medizinischen Institutionen

Ein Spaziergang von Christian Seiler

Ich beginne diesen Spaziergang vor einem Würstelstand. Der steht direkt vor dem „Chemischen Institut“ der Medizinischen Universität Wien auf der Währinger Straße und ist ein Monument der Wirklichkeit. Mit seiner von Graffitis verzierten Aluminiumfront bildet er den maximalen Kontrast zum historistischen Prachtbau von Heinrich Ferstel, der in den Jahren 1869 bis 1872 entstand und ein revolutionäres Laboratorium beherbergte.

PDF Spaziergang N° 5
 

Ich gehe am Gebäude entlang, wo heute das Zentrum für Pathobiochemie und Genetik untergebracht ist, hebe den Blick und sehe, dass unter dem First die Namen großer Geister fest-gehalten wurden: Dumas, Liebig, Lavoisier, Berzelius – Giganten der Chemie des 19. Jahrhunderts.

Es lohnt sich, aufmerksam die Währinger Straße stadtauswärts zu gehen. Man sieht auf der rechten Straßenseite zum Beispiel das „Stiftungshaus Charlotte Lea Merores“, das eine jüdische Groß-bürgerin Ende des 19. Jahrhunderts „israelitischen Waisenmädchen“ vermacht hatte. Ein paar Häuser weiter, knapp bevor die Berggasse ins Sigmund-Freud-Land abbiegt, befindet sich die Trafik, die das Vorbild für Robert Seethalers Bestseller „Der Trafikant“ gewesen sein muss. Zwischen bedeutungsschwan-geren Anhaltspunkten für ausufernde Geschichten gehe ich weiter, bis ich, vorbei am Vinzi-Haus, einem vorbildlichen Obdachlosenprojekt, vor dem Josephinum der Medizinischen Universität Wien zu stehen komme. 

Dieser jetzt so strahlende Prachtbau wurde von Kaiser Joseph II 1784 als „militärisch-chirurgische Akademie Josephinum“ gegründet, um einen Ort für die moderne Ausbildung von Chirurgen zu schaffen. Im Mittelpunkt dieser Ausbildung stand eine Sammlung von florentinischen Wachsmodellen, die anschaulich und kunstfertig zugleich menschliche Körper nachbildeten und Aufschlüsse über anatomische Zusammenhänge lieferten. Der kürzlich verstorbene Schriftsteller Gerhard Roth, der im Josephinum ein- und ausgegangen war, nannte die Sammlung eine „Enzyklopädie des menschlichen Körpers“. Ich hatte das Privileg, vor Jahren einmal mit Roth durchs Josephinum zu gehen. Der Dichter, selbst Medizinstudent ohne Abschluss, machte mich auf die Poesie und den unglaublichen Deutungsreichtum aufmerksam, der den Modellen innewohnt, und darüber übersah ich direkt den schlechten Zustand des Gebäudes. 

Diesmal ist das anders. Das Josephinum, wie fast alle anderen Universitätsbauten im Eigentum der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), strahlt nach einem mehrjährigen Umbau in neuem Glanz. Der Eingangsbereich ist zu einem offenen Entrée geworden, frühere Umbauten wurden großzügig entfernt. Der Architekt Hermann Czech, der die Innengestaltung besorgte, hat das typische Pariser Grün aufgenommen, das klassisch auch an anderen Orten im Haus verwendet wurde. Allerdings wurde diese Farbe früher mit Arsen angemischt. Beim Rückbau einer Zwischendecke, die den zentralen, halbrunden Hörsaal im ersten Stock völlig aus seiner ästhetischen Balance geworfen hatte, musste deshalb enorm vorsichtig gearbeitet werden, weil sich das in der Farbe gebundene Arsen sonst in die Luft verflüchtigt hätte. Das Problem wurde gelöst und der Hörsaal ist zu einer spektakulären Herzkammer des neu gestalteten Josephinums geworden. An den Wänden virtuose Malereien, die historische Chirurgen zeigen, die auf Lehrende und Studierende hinunterschauen – und gerade auch auf mich. Neben dem Hörsaal befinden sich auf diesem Stockwerk auch die Josephinische Bibliothek, der Lesesaal und – in ihren historischen (oder sorgfältig nachgebauten) und neu organisierten Vitrinen – die Wachsmodelle, so zauberhaft und magisch wie eh und je.

Ich bleibe lange, denke an die Universen, die Gerhard Roth in jedem dieser Modelle entdecken konnte, und verliere mich selbst in den rätselhaften und doch so gut bekannten Details, die kunstvoll und genau menschlichen Körpern nachgebildet sind. Als ich später wieder in den Hof des Josephinums trete, betrachte ich die umliegenden Zweckbauten, die zur Medizinischen Universität gehören, stibitze von einem Feigenbaum eine reife Frucht und verlasse den Komplex durch die Tür zur Van-Swieten-Gasse, benannt nach dem Leibarzt Maria Theresias, der in der Zeit der Aufklärung für faktenbasierte Forschung und gegen verbreiteten Hokuspokus aufgetreten ist. Die Van-Swieten-Gasse führt mich direkt ins Alte AKH, Wiens erstes Allgemeines Krankenhaus, das im 18. Jahrhundert unter Joseph II aus einem ehemaligen Armenhaus entstand und bis 1994 betrieben wurde.

An der Peripherie des Alten AKH, jetzt Campus der Universität Wien, schiebt sich der Narrenturm ins Bild. Dieser eindrucksvolle Rundbau diente der Unterbringung von Menschen mit psychischen Problemen. Lang trug er den Spitznamen „Kaiser Josephs Gugelhupf“. Ich widme der pathologisch- anatomischen Sammlung des Naturhistorischen Museums, die jetzt im Narrenturm untergebracht ist, die nächste Stunde, die eindrucksvoll, aber natürlich auch beklemmend ist.

Nach der Vergangenheit der Wiener Medizin wende ich mich ihrer näheren Zukunft zu. Ich trete durch den Hof 10 hinaus auf die Spitalgasse und gehe bis zur Mariannengasse, wo eine voluminöse Baustelle darauf aufmerksam macht, dass hier der neue MedUni Campus Mariannengasse entsteht. Dieses Projekt macht sich zur Aufgabe, bisher ver-streute vorklinische Einrichtungen unter ein Dach zu bringen. Mehr als 700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Physiologie, Phar-makologie, Anatomie, Zellbiologie, Pathobiochemie, Genetik, Medizinische Physik und Krebsforschung werden gemeinsam mit 2.000 Studierenden auf den neuen Campus übersiedeln. Jetzt sind nur Baumaschinen zu sehen.

Später gehe ich zurück ins Alte AKH. Alte Bäume spenden Schatten, und durch majestätische Rund-bögen gehe ich durch immer größere, immer belebtere Höfe des Campus, der inzwischen vor-wiegend von Universitätsinstituten genutzt wird. Schließlich nehme ich einen Seitenausgang zum Otto-Wagner-Platz. Dort endet mein SpaziergBibli angothek so, wie er begonnen hat: vor dem aufgeräumten „Würstelstand bei der Nationalbank“. Der erinnert mich daran, dass wir zwischen historischen und futuristischen Zusammenhängen immer noch in der Gegenwart daheim sind. Ich habe nämlich Durst und Hunger.

 

Währinger Straße – Van-Swieten-Gasse – Altes AKH – Spitalgasse – Otto-Wagner-Platz
2,5 Stunden – 6.000 Schritte

Christian Seiler schreibt eine wöchentliche Gehen-Kolumne im Freizeit-Magazin des Kurier. 
Zuletzt erschien sein Buch "Besser gehen in Wien. 89 Spaziergänge ins Innere der schönsten Stadt der Welt".