BIG Spaziergang N° 6

Grazer Studienversammlung: Eine Runde zu ausgewählten Universitätsgebäuden der steirischen Landeshauptstadt.

Ein Spaziergang von Christian Seiler

PDF Spaziergang N° 6
 

Im Botanischen Garten der Universität Graz blühen die Häuser. Auf dem Weg dorthin sind mir schon die bunten Gärten aufgefallen, die rund um die herrschaftlichen Villen im Stadtbezirk Geidorf angelegt sind. Als ich im Botanischen Garten ankomme, springen mir aber zwei Gewächshäuser ins Auge: Hier das utopistische Glashausensemble des Architekten Volker Giencke aus dem Jahr 1982, mehr eigenständiger Glasbau als Pflanzenheimat, dort das dagegen fast zurückhaltend wirkende historische Gewächshaus, das gut hundert Jahre älter ist und gerade erst einer sorgfältigen Renovierung unterzogen wurde. Zwischen diesen Polen hat sich die botanische Forschung eingerichtet, übersichtlich nach Weltregionen geordnet, so dass ich mit ein paar Schritten verschiedene Kontinente aufsuchen kann. Was für ein Luxus.

Als ich den Garten verlasse, tauche ich erst einmal in die urbane Wirklichkeit der Schubertstraße ein, der ich bis zum Campus der Universität Graz folge. Zuerst bleibe ich vor dem langen, wuchtigen Bau des RESOWI-Zentrums stehen, das mit beeindruckenden Maßen (350 Meter Länge, 50 Meter Breite) das Unigelände gegen Nordosten abschließt. Das von Günther Domenig und Hermann Eisenköck geplante Gebäude enthält Fakultätseinrichtungen für nicht weniger als 7.000 Studierende, mehr als 30 Institute und Zentren, Hörsäle, Leseräume.

Ich betrete das Haus durch den Haupteingang und bleibe gleich einmal an einem Werk des griechischen Arte-Povera-Künstlers Jannis Kounellis hängen, einem Konstrukt aus Kohle, Stein, Eisen und Holzbalken, das ein lebendiges Gegengewicht zur Stahl-Glas-Beton-Konstruktion des Hauses darstellt. Ich lasse Kounellis wirken und begebe mich erst dann hinüber zum Gebäude der Universitätsbibliothek.

Blickfang ist der 18 Meter weit auskragende Glaskubus, der dem Wissensspeicher – die Unibibliothek ist mit einem Bestand von vier Millionen Büchern die größte Bibliothek der Steiermark – aufgesetzt wurde. Auf der Unterseite der Auskragung befindet sich ein faszinierendes Werk der Künstlerin Anna Artaker, die das Motiv eines historischen Kupferstichs 220-fach vergrößerte und als Sgraffito auftragen ließ. Der Kupferstich stammt aus einem Lehrbuch zur praktischen Anwendung der Zentralperspektive, dessen Titel auch in die Stufen hinauf zum Eingang eingemeißelt ist: „PERSPECTIVA PRACTICA“.

Mit der Frage im Kopf, welche praktischen Ideen sich wohl hinter der ästhetischen Brillanz der Arbeit verbergen, betrete ich die Bibliothek selbst. Die Fassade aus dem 19. Jahrhundert ist wieder freigelegt, und der große Lesesaal atmet, eingerichtet mit seinen historischen Möbeln, Grandezza, Ruhe und ein bisschen Feierlichkeit. In den aufgestockten Etagen, lichtdurchflutet und mit roten Teppichen ausgelegt, herrscht intellektuelle Betriebsamkeit. Studierende sitzen auf bequemen Möbeln über ihren Büchern und Laptops.

Ich mache jetzt einen Abstecher ins gegenüberliegende Hauptgebäude der Uni, durchschreite den schön hergerichteten Innenhof, der auch gern für Feierlichkeiten verwendet wird, paradiere an großen Köpfen – von Ludwig Boltzmann bis Hans Gross – vorbei, die hier Bleibendes geschaffen haben, und betrachte die lüfterlmäßigen Allegorien von Alexander Demetrius Goltz, mit denen die Aula – nebst einem überlebensgroßen Standbild von Kaiser Franz Joseph – ausgestaltet ist.

Draußen auf der Straße kann ich dann die imposante Fassade des Hauptgebäudes aus dem Jahr 1895 in seiner Gänze wirken lassen, als ich hinüber zur Vorklinik gehe, einem nicht uncharmanten Siebzigerjahrbau, der demnächst einem Neubau, dem Graz Center of Physics, weichen wird. In diesem Neubau bekommen die Physik-Institute der Universität Graz und der TU Graz einen gemeinsamen Standort, der eine international mehr als konkurrenzfähige Infrastruktur für Lehre und Forschung zur Verfügung stellen wird. Über die Zinzendorf- und die Elisabethstraße – in ersterer hat sich die Tages-, in zweiterer die Nachtgastronomie angesiedelt – gehe ich weiter zum nächsten Komplex der Bundesimmobiliengesellschaft im Grazer Universitätsleben, der Kunstuniversität Graz, die aus unterschiedlichen Gebäuden verschiedener Epochen besteht. Zuerst widme ich mich dem neuesten, wohl spektakulärsten Bauwerk: dem MUMUTH – Haus für Musik und Musiktheater. Der Bau des niederländischen Architekten Ben van Berkel ist von einem Metallgewebe namens Mesh überzogen, das nach Innen und Außen gleichermaßen für Transparenz sorgt. Ich steige zum Herzstück des Hauses, dem Ligetisaal, in den ersten Stock hinauf, einem multifunktionalen, vielseitig verwendbaren Konzertsaal. Aber schon vor der geschwungenen, roten Stiege bleibt mir die Luft weg: Sie ist weniger Funktionsträgerin als Statement, umkreiselt die ebenfalls spiralförmige Tragkonstruktion aus Beton und verleiht dem Bau etwas Undurchschaubares, Blurbiges, fast Mystisches. Dieses Motiv wiederholt sich auf ganz andere Weise gegenüber, im Theater im Palais, den ehemaligen Stallungen des benachbarten Herrenhauses.

Erst dann spaziere ich durch das Palais Meran selbst, das Erzherzog Johann Mitte des 19. Jahrhunderts als Wohnhaus für sich und seine Nachkommen erbauen ließ. Die verspielte Pracht des klassizistischen Prunkbaus steht in konzentrierter Spannung zur Zeitgenossenschaft der Nachbargebäude. Durch den erstaunlicherweise asymmetrisch angelegten Garten gehe ich zum nächsten Standort der Kunstuni in der Brandhofgasse, dessen Grundriss einem Konzertflügel nachempfunden ist – und vor dem eine Batterie von Hosen auf Orgelpfeifen aus der Werkstatt des Künstlers Erwin Wurm Aufstellung genommen hat. Im Haus üben in großzügigen Studios talentierte Musikerinnen und Musiker. Ich betrachte die Vitrinen ausgestellter Bühnenbildmodelle und atme die Erwartung von Schönheit und Originalität ein, die hier ihr Zuhause gefunden hat.

 

Christian Seiler schreibt eine wöchentliche Gehen-Kolumne im Freizeit-Magazin des Kurier. 
Zuletzt erschien sein Buch "Besser gehen in Wien. 89 Spaziergänge ins Innere der schönsten Stadt der Welt".