BIG Spaziergang N° 4

Scharnier zum Wissen des Kosmos - mit der BIG durch den Campus Akademie

Ein Spaziergang von Christian Seiler

Ich gehe durch die Sonnenfelsgasse Richtung Dr.-Ignaz-Seipel-Platz und sehe plötzlich ein Licht. Das Licht strömt aus einer Tür, die ich noch nie offen gesehen habe, gleich rechts neben der Fassade der Jesuitenkirche, im äußersten Winkel des Jesuitenkollegs, das die westliche Seite des Platzes einnimmt. Natürlich macht mich das Licht neugierig. Ich überquere den Platz und nehme die offene Tür beim Wort: Ich trete ein.

PDF Spaziergang N° 4
 

Plötzlich befinde ich mich in einer anderen Welt. Neben dem Kirchenschiff öffnet sich ein mir neuer, völlig unbekannter Innenhof, von großzügiger Dimension, umrahmt von einem Arkadengang, in dessen hinterer Flucht auf einem angeschütteten Hügel mit breiten Schultern ein Kastanienbaum steht. Die Arkaden, das lerne ich später, sind das Ergebnis eines beherzten Rückbaus, der im Rahmen der Umgestaltung des „Campus Akademie“ durch die Bundesimmobiliengesellschaft vollzogen wurde. Die zwischenzeitlich vermauerten Rundungen in der Außenmauer sind wieder geöffnet, sie verleihen der durch Bogenfenster geprägten Fassade ihren mediterranen Rhythmus.

Man könnte sich hier ohne Weiteres auch nach Florenz oder Padua träumen, in einer der Sitzbuchten oder auf dem langen, kniehohen Mäuerchen, das den Platz der Länge nach teilt und die Botschaft der Koexistenz zwischen Jesuiten und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in sich trägt – speziell dann, wenn man weiß, dass sich diese Institutionen den Hof gemeinsam mit der Öffentlichkeit teilen, die hier zu den Betriebszeiten willkommen ist.

Über ein neues Stiegenhaus gehe ich hinauf zur Bibliothek des Hauses. Sie liegt wie eine Kapitänskajüte über der Schönlaterngasse auf der einen und der Postgasse auf der anderen Seite. Mit ihrer dunklen, schnörkellosen Eleganz unter barocker Deckenmalerei zieht sie mich sofort in ihren Bann. Wenn ich mir einen Ort der Begegnung zwischen Wissenschaft und Gegenwart ausdenken müsste, würde er ungefähr so aussehen. Zwischendurch residierten Passamt und Polizeisportverein hier in der ehemaligen Jesuitenbibliothek. Jetzt gehört der majestätische Raum wieder den Büchern.

Nach einem Rundgang durch den universitären Gebäudeabschluss, der einen schönen Blick auf die Postgasse und das Portal der griechischorthodoxen Kirche St. Barbara ermöglicht, gehe ich zurück in den Arkadenhof, freue mich über den Duft der Kräuter und Blumen und gehe durch den neuen, großzügig verglasten Haupteingang des Komplexes hinaus auf die Bäckerstraße. Ich liebäugle mit einer Erfrischung im Café Engländer, entscheide mich aber dafür, zuerst das Haus zu umrunden, das ich gerade von innen kennengelernt habe. Ich gehe die Postgasse entlang, suche vertraute Formen und schlüpfe – noch ein offenes Tor – in den Zwischenraum zwischen dem vorgebauten, einstöckigen Wirtschaftsgebäude und dem Kollegium. Auch hier sind Draußen und Drinnen in Zukunft verbunden.

Über den unterschätzten Platz vor der früheren Postzentrale biege ich in die Schönlaterngasse ein und folge ihr in die pittoresken Winkel des alten Wiens, die sich hier auftun. Enrico Panigl, Wien-Triest-Marienbad, die Alte Schmiede. Schaue ich über die Schulter zurück, führen die eng stehenden Mauern meinen Blick direkt in die neue Akademiebibliothek, erster Stock, ganz rechts. Einfache Linienführung, komplexes Dahinter.

Jetzt in die enge Jesuitengasse. Links das Schiff der Kirche, jemand übt Orgel. Rechts die Mauer des Hauses, in dem der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz schon um 1700 den Vorschlag machte, in Wien eine „Akademie der Wissenschaften“ zu gründen.

Bis zur tatsächlichen Gründung der Gelehrtengesellschaft dauerte es dann bis 1847. Zehn Jahre später zog die „k.k. Akademie der Wissenschaften“ in das alte Wiener Universitätsgebäude ein, das der französische Architekt Jean Nicolas Jadot de Ville-Issay als „Neue Aula“ entworfen hatte. Hier residiert die Österreichische Akademie der Wissenschaften bis heute.

Ich betrete das Gebäude durch den Haupteingang. Grüße den Portier, steige zu den Prunk- und Sitzungssälen in die erste Etage. Der zweistöckige Festsaal wäre allein wegen seiner Dimension überwältigend – aber das Deckenfresko von Gregorio Gugliemi macht den Saal zu einem Ereignis, öffnet ihn nach oben zu den vielgestaltigen Welten der Imagination. Die Sanierung des Hauses ist seit Juli 2021 fertig. Die alten Mauern beherbergen jetzt nicht nur ihre Historie und Aura, sondern auch modernste Infrastruktur.

Später steige ich hinauf zur Dachterrasse, wo sich bis 1822 die Universitätssternwarte befunden hat, lasse den Blick über Wien schweifen, blicke der Jesuitenkirche in die Augen und genieße die Präsenz des nahen Stephansdoms. Hier befindet sich das Scharnier zwischen dem Kosmos großer Ideen und den Dächern der Stadt.

Dann steige ich hinunter, um mich auf dem Boden des neuen Campus wieder zu erden.

 

Sonnenfelsgasse – Ignaz-Seipel-Platz – Arkadenhof –
Bibliothek – Bäckerstraße – Postgasse – Schönlaterngasse –
Jesuitengasse – Neue Aula – 3.600 Schritte

Christian Seiler schreibt eine wöchentliche Gehen-Kolumne im Freizeit-Magazin des Kurier.
Zuletzt erschien sein Buch „Besser gehen in Wien. 89 Spaziergänge ins Innere der schönsten Stadt der Welt“.