BIG Spaziergang N° 3

Wo die Kunst zu Hause ist

Ein Spaziergang von Christian Seiler

Dieser Spaziergang beginnt zwischen Chrom und Samt im Café Sperl. Eine Melange oder ein großer Brauner, gestärkt aufstehen und in die Lehárgasse hinausschreiten, wo mich die lange, rotbraune Fassade des Semperdepots empfängt: Ein Stück kulturhistorisches Wien, in dem gerade die Kultur von morgen verhandelt wird.

PDF Spaziergang N° 3

Benannt nach seinem Architekten Gottfried Semper (1803–1879), einem Superstar seiner Zeit, hatte das heutige „Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste“ seinerzeit die Aufgabe, die Kulissen und Ausstattungen der staatlichen Theater zu beherbergen. Über dem Tor auf Nummer 8 ist der verschnörkelte Schriftzug „Staatstheaterdepot“ noch zu lesen, aber ein Blick durch die Fenster gibt Aufschluss darüber, dass hier gerade gemalt, gestaltet, entworfen wird. In Sempers einfühlsam renoviertes Bauwerk, das einzige, das er in Wien gestaltet hat, sind Lehrende und Studierende der Kunstakademie eingezogen.

An einem Stück der Fassade hängt ein Plexiglasschild, das den Schriftzug „Wunden der Erinnerung“ trägt. Dahinter Einschläge von Maschinengewehrfeuer der Roten Armee, die dem Gebäude 1945 bei der Schlacht um Wien zugefügt wurden. Die historischen Schichten in dieser Stadt, sie sind vielfältig. Wer sie sehen möchte, kann sie fast überall sehen. Ich suche auf dieser Tour Orte auf, an denen Kunst vermittelt und gelehrt wird. Häuser, die dafür gemacht sind, zu inspirieren, Talente zu fördern, Außerordentliches entstehen zu lassen. Häuser, die eine Aura besitzen, die als kreative Inseln im Stadtleben fungieren. Diese Häuser stehen im Eigentum der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), deren Aufgabe es ist, sich um die Erhaltung und Entwicklung dieser speziellen Orte zu kümmern.

Die Lehárgasse entlang, über den Getreidemarkt zur Akademie der bildenden Künste. Der prachtvolle Bau von Theophil Hansen, der 1877 eröffnet worden war, ist nach langjähriger Renovierung wieder frei von Baugerüsten und steht stolz, fast majestätisch an der Schnittstelle zwischen Getreidemarkt und Schillerplatz.

Statt Bautafeln sind am Portal der Akademie wieder Ausstellungen annonciert, und ich steige in die Gemäldegalerie im zweiten Stock hinauf, deren historisches Prunkstück das Weltgerichtstryptichon von Hieronymus Bosch ist. Hier treffen sich seit Herbst 2021 wieder klassische und gegenwärtige Malerei und erzeugen die schöpferische Spannung, die dieses mächtige Haus beseelt und schweben lässt.

Am Café Museum vorbei gehe ich zum nahen Karlsplatz, durchquere den Resselpark, betrachte die Baustelle des Wien Museums, das langsam wieder Gestalt annimmt, gehe an der französischen Botschaft vorbei zum Schwarzenbergplatz, links Innenstadt, rechts Hochstrahlbrunnen, biege in die pittoreske Traungasse ein – kein Wunder, dass hier oft historische Wienfilme mit Pferdefuhrwerken und Zylindern gedreht werden – folge jetzt der Salesianer- und dann der Beatrixgasse, bis ich zum Anton-von-Webern-Platz komme.

Durch das offene Tor betrete ich den Campus der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst. Es ist ein Schritt in eine andere Welt. Ich höre, wie jemand sein Schlagzeug füttert. Aus dem Gebäude der ehemaligen Veterinäruniversität klingt ein luftiges Piano. Wie weggedimmt ist der Straßenlärm. Kluge architektonische Interventionen schlagen eine Brücke zwischen historischer Substanz und Gegenwart. Die Bibliothek schwebt über dem Campus. Das kunstvoll verschachtelte „Future Art Lab“ der Architekten Pichler & Traupmann ummantelt ein Klangtheater, ein Arthouse-Kino, einen Aufnahme- und einen kleinen Konzertsaal. Schönheit, die dafür gemacht ist, neue Schönheit hervorzubringen.

Durch ein Institutsgebäude gehe ich auf kurzem Weg hinaus auf die Ungargasse, von dort durch das Durchhaus des Sünnhofs hinüber zur Landstraßer Hauptstraße und über den Esteplatz zur Marxergasse. Ich nehme einen Espresso in der „Warenhandlung“, die können das gut. Dann gehe ich die Marxergasse stadteinwärts, wage mich durch die Schlucht zwischen der Mall Wien Mitte und dem Justizgebäude. Wenn Wien irgendwo New York ist, dann hier.

Hundert Meter stadteinwärts habe ich zwei ganz unterschiedliche Standorte der Universität für angewandte Kunst Wien im Blick: den Standort an der Vorderen Zollamtsstraße, dessen Fassade ein überdimensionales A – wie Angewandte – ziert. Und den historischen Schwanzer- Wörle-Anbau an das MAK aus den Sechzigerjahren.

Beide Standorte haben grundlegende Transformationen hinter sich, ohne dass ihr Äußeres das allzu laut nach außen meldet. An der Zollamtsstraße entstand im mit Glas überdachten Innen- hof ein neuer Campus, im denkmalgeschützten Schwanzer-Wörle-Bau eine flexible Grundordnung für Büros, Studios und Werkstätten, beides von Riepl Kaufmann Bammer Architektur.

Ich gehe die Fassade der Sechzigerjahre-Architektur entlang. Sie lebt. Vor ein Fenster hat jemand eine Art Vogelhaus gebaut, und im letzten Raum mit Blick auf den Wienfluss wurde eine Figur, die mit einem langen Zeigefinger auf sich selbst zeigt, an die Wand gesprüht.

Modernität hat es in Wien nie besonders leicht gehabt. Umso eindrucksvoller ist dieses gleichzeitig historische wie auch zukunftsweisende Gebäude, an dessen Stadtparkfassade nachts ein Kunstwerk des im Dezember verstorbenen Laurence Weiner projiziert werden: Smashed to Pieces (In the Still of the Night).

Von hier gehe ich über den Stubenring, nicht ohne der Büste von Oskar Kokoschka neben dem Haupteingang der Angewandten meine Reverenz zu erweisen. Der Weg zu Otto Wagners Postsparkasse ist nicht weit. Die Modernität der Sechzigerjahre trifft im Radius von hundert Metern auf die Modernität des Fin de Siècle. Die Postsparkasse mit ihrer außergewöhnlichen Formensprache und den ungewöhnlichen Materialien ist eines von Wiens ikonischen Jugendstilgebäuden – ikonisch wie auch Schwanzers Angewandte, same same but different.

In das Gebäude ziehen neuerdings Wissenschafts- und Kunstinstitutionen ein, Institute der Angewandten, der Johannes Kepler Universität Linz und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Bald wird der Wissenschaftsfonds FWF seinen Sitz hierher verlegen.

Ich lasse Otto Wagners Fassade einmal mehr auf mich wirken. Sie verspricht Neues, immer noch, und immer wieder. Christian Seiler schreibt eine wöchentliche Gehen-Kolumne im Freizeit-Magazin des Kurier. Zuletzt erschien sein Buch „Besser gehen in Wien. 89 Spaziergänge ins Innere der schönsten Stadt der Welt“.

 

90 Minuten, 8.000 Schritte
Christian Seiler schreibt eine wöchentliche Gehen-Kolumne im Freizeit-Magazin des Kurier.
Zuletzt erschien sein Buch „Besser gehen in Wien. 89 Spaziergänge ins Innere der schönsten Stadt der Welt“.