BIG Spaziergang N° 1

Von Otto Wagners Postsparkasse zum Akademischen Gymnasium

Ein Spaziergang von Christian Seiler

An manchen Plätzen Wiens schieben sich Ästhetik, Bedeutung, Vergangenheit und Gegenwart anmutig übereinander. Die Fassade von Otto Wagners Postsparkasse ist so ein Beispiel. Ich stehe auf dem Georg-Coch-Platz und betrachte die virtuos gegliederte Fassade des Bankgebäudes, das zwischen 1904 und 1912 errichtet wurde. Es ist Otto Wagners berühmtestes Bauwerk in Wiens Innenstadt, ein Monument der Moderne, das architektonisch den AuŠruch in neue Zeiten symbolisierte. Ich muss nur ein paar Schritte zurücktreten, Richtung Ringstraße, damit auch das Denkmal für Georg Coch ins Gesichtsfeld springt. Coch (1842 bis 1890) war Gründer der Postsparkassen, ein Mann, dessen Frisur und Bartmode durchaus Verwandtschaft mit schicken Hipstern in angesagten Lokalen hat. Er brachte die Idee einer Bank für die kleinen Leute nach Wien, legte also den ideellen Grundstein für Wagners ästhetische Ideen, die im Inneren der Kassenhalle detailverliebt ihre Vollendung finden.

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So verknüpfen sich mit jedem Schritt die Fäden der Ideen, die eine Stadt ausmachen. In Zukunft wird die Postsparkasse verschiedene Universitäts- und Forschungsinstitute beherbergen. Sie bekommt also eine neue Seele im historischen Körper und lehrt uns, dass urbane Geschichte nie zu Ende ist.

Mein Rundgang durch die Innenstadt führt mich zu prominenten Gebäuden, die im Besitz der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) stehen. Die BIG verwaltet und gestaltet etwa 2.000 Liegenschaften in ganz Österreich. Universitätsgebäude, Schulen, öffentliche Orte, aber auch Bürohäuser und Geschäftslokale, die täglich von 500.000 Menschen besucht und bewohnt werden. Manche dieser Gebäude sind Landmarks. Andere brauchen zwei, drei Blicke mehr, vielleicht auch eine Erklärung, eine Gebrauchsanweisung, bis man ihre Bedeutung erfasst. Wer sie besucht, so wie ich das heute vorhabe, lernt Wien von einer neuen Seite kennen.

Vom Georg-Coch-Platz gehe ich den Stubenring entlang, allerbester Ringstraßenpomp, bis ich beim Café Prückel abbiege, den Luegerplatz überquere und die Bäckerstraße stadteinwärts gehe. Hier entsteht gerade der neue Campus der Akademie der Wissenschaften. Am Schnitzelrestaurant Figlmüller – weltberühmt in Wien – spaziere ich vorbei, biege in die Passage zur Wollzeile ein und befinde mich prompt an der Wollzeile 1-3, einem voluminösen Haus aus dem Revolutionsjahr 1848, das zu einem eleganten Stadtbürohaus umgebaut wurde. Innenhofgrün, Glas, urbane Gastronomie. Durch Nebengassen schlendere ich von hier zuerst zum Judenplatz, Wiens wahrscheinlich schönstem Ensemble, dann hinüber zum Platz Am Hof, der in aller imperialer Großzügigkeit ausgestreckt liegt.

Im Haus Am Hof 3-4 an der Stirnseite des Platzes kann man hübsche und langlebige Dinge einkaufen, aber auch aus dem ersten Stock den Blick über den Hof genießen. Eine bessere Aussicht haben auch die Bankdirektoren in den Stockwerken darüber nie gehabt.

Ich passiere die Freyung und das Schottenstift – Tipp: im Klosterladen italienischen Kräuterbitter einkaufen –, dann steige ich die versteckte, steile Stiege zur Mölkerbastei hinauf und nähere mich auf diesem winzigen, aber spektakulären Umweg dem Hauptgebäude der Universität Wien, einem prachtvollen Tempel der Bildung und des Denkens. Mache Pause im Arkadenhof, der Ruhe spendet und Jahrhunderte der Forschung repräsentiert. Hier stehen nicht nur die Büsten verdienter Akademiker. Eine überdimensionale, in den Boden eingelassene Schattenfigur der Künstlerin Iris Andraschek macht auf den Anteil weiblichen Denkens und Forschens aufmerksam, der im Figurenhain unterrepräsentiert war und ist.

Von der Uni über den Rathausplatz zum Burgtheater, weiter durch den Volksgarten, wo im Rosengarten unzählige Rosenarten mit den persönlichen Geschichten ihrer Paten verbunden sind, eine Fundgrube für Romantiker und sentimentale Gemüter wie mich. Am Rand des Heldenplatzes hinüber zum Palais Epstein. Wieder so ein Ort, dessen Geschichte und Bedeutung nicht auf den ersten Blick zu erfassen ist. Erst bei einer Führung durch das Palais werde ich mit dem Aufstieg und Fall der Unternehmer- und Bankiersfamilie Epstein vertraut: Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte der Donaumonarchie in denkbar sprechender Kulisse.

Nur einmal um die Ecke liegt am Schmerlingplatz der Justizpalast. Der wuchtige Bau im Stil der Neorenaissance beherbergt einen Grundpfeiler des Staates, seine Rechtssprechung. Architektur ist auch dafür gemacht, Respekt einzuflößen, denke ich mir, aber dann grüßt mich der Pförtner, ich nehme den Aufzug hinauf zum Justizcafé und bestelle oben im Dachgeschoss, in einer ätherisch anmutenden Glaskonstruktion mit einen unvergleichlichen Blick über das Zentrum von Wien, eine Melange. Von unten gesehen ist der Justizpalast ein Bollwerk. Von oben ein Flugzeugträger für hochfliegende Ideen.

Später spaziere ich durch das Museumsquartier, die Rahlgasse und den Campus der Technischen Universität hinüber zum Schillerplatz, wo sich die Akademie der bildenden Künste befindet. Der Prachtbau von Theophil Hansen umfängt zugleich künstlerische Vergangenheit und Zukunft. Der Prunk vergangener Tage ist sorgsam renoviert und bildet einen fruchtbaren Kokon für die Kreativität kommender Generationen. Die alten Meister sind in der neuen Gemäldegalerie zu besichtigen. Die jungen Meisterinnen und Meister feilen noch an ihren Inspirationen für die Ewigkeit.

Vom Schillerpark durch Elisabeth- und Bösendorferstraße, dann über Ring und Schwarzenbergplatz hinüber zum Beethovenplatz, wo sich vor dem Akademischen Gymnasium das Ziel dieser Stadtwanderung befindet. Das Beethovendenkmal zeigt den Meister mit wildem Haar. Gleich daneben spielen Schülerinnen und Schüler Tischtennis, und aus dem Festsaal im ersten Stock ist Musik zu hören. Probt die Schulband? Das Akademische ist das älteste Gymnasium Wiens, Schubert hat hier studiert, Schnitzler und Hofmannsthal. Friedrich Schmidt, später auch Architekt des Rathauses, plante das Schulhaus im neugotischen Stil, und wer Harry Potter gelesen hat, weiß, dass Hogwarts nicht viel anders ausgesehen haben kann. Mit diesem poetischen Impuls schieben sich – so ist das in Wien – Ästhetik, Bedeutung, Vergangenheit und Gegenwart übereinander.

 

Christian Seiler schreibt eine wöchentliche Gehen-Kolumne im Freizeit-Magazin des Kurier.
Zuletzt erschien sein Buch „Besser gehen in Wien. 89 Spaziergänge ins Innere der schönsten Stadt der Welt“.